Slave To The Rhythm

Slave To The Rhythm

Erschienen in material girl #8, Winter 2009

Fashionshows ohne pumpende Beats sind wie Karl Lagerfeld ohne Brille oder Viktor ohne Rolf. Schlichtweg unvorstellbar. material girl hat sich mit Jerry Bouthier, einem der meistbeschäftigten DJs bei den SS10 Shows, ans Mischpult begeben.

Wie in der Mode kristallisieren sich auch bei den Soundtracks zu Fashionshows saisonale Trends heraus. Bei den SS10 Shows ging die Tendenz einmal mehr zur Live-Performance – Lily Allen spielte für Chanel, die New Yorker Weirdo-Band Gang Gang Dance für Eric Wasson x RVCA, und die hochschwangere Róisín Murphy legte für Viktor & Rolf einen unvergesslichen Auftritt im glamourösen Tüll-Umstandskleid hin.

In der Liste der meistgespielten Artists schaffte es Michael Jackson posthum noch auf Rang 4, gleichauf mit Franz Ferdinand und knapp geschlagen von den Newcomern The XX und Rock-Fossil Iggy Pop. Und – die Spannung steigt – welcher Track war bei den SS10 Fashionweeks am häufigsten zu hören? „Dimestore Diamond“ von Gossip. Damit bleibt Beth Ditto dem Fashionzirkus als musikalischer Dauergast hoffentlich länger erhalten denn als ulkiges Maskottchen für die Front Row.

Dass es bei Show-Soundtracks aber um viel mehr geht, als bloß die richtigen Nummern aneinanderzureihen, weiß Jerry Bouthier. Der gebürtige Franzose zählt, neben Lagerfeld-Busenfreund Michel Gaubert und Musik-Stylist Laurent Vacher, zu den Top-Catwalk-DJs und hat gerade für Vivienne Westwood in Mailand aufgelegt. Im Gespräch mit material girl erzählt er über das Desaster bei seinem ersten Fashion-Gig, das ideale Laufsteg-Tempo und warum er H&M gerne seinen musikalischen Stempel aufdrücken würde.

Jerry, du hast unter anderem die Soundtracks für die SS10 Shows von Peter Jensen, Roksanda Ilincic und Vivienne Westwood produziert. Wie bist du eigentlich zu diesem Job gekommen?
Für mich gehören Musik und Mode einfach zusammen. Ich bin in Paris aufgewachsen, habe mich aber immer schon vom Londoner Streetstyle inspirieren lassen. Als Teenager bin ich total auf britische Musik abgefahren und wollte unbedingt so bald wie möglich nach London gehen. An der Stadt mochte ich einfach alles: die Musik, die Looks, die Menschen. Den Einstieg habe ich meiner damaligen Freundin Lucile zu verdanken, die in London für Designer wie Jessica Ogden, Peter Jensen und Eley Kishimoto arbeitete. Für die habe ich Mixtapes und CDs gemacht und schließlich die Musik für ihre Shows zusammengestellt. Als Resident-DJ für Richard Mortimer [Veranstalter der Fashion-affinen Clubnights Family, BoomBox und Ponystep, Anm.] lernte ich dann Roksanda Ilincic, Jonathan Saunders, Romain Kremer und schließlich Vivienne Westwood kennen.

Kannst du dich noch an dein Show-Debüt erinnern?
Das war für Marjan Pejoski in Paris, und weißt du, was passiert ist? Gleich nach dem Start fiel der Strom aus, die Musik war weg, es war unglaublich peinlich.. aber ich konnte ja nichts dafür. Nach einer Minute oder so war der Strom wieder da, die Show ging weiter, uff…

Was war die beste Show, bei der du je aufgelegt hast?
Jede Show ist auf ihre Weise interessant. Es ist jedes Mal ein totaler Kick – der Raum füllt sich, plötzlich geht das Licht aus, die Musik setzt ein, und das erste Model spaziert über den Laufsteg. Monatelange Arbeit entlädt sich in zehn Minuten purer Magie. Die Designer müssen da eine Gänsehaut bekommen! Von den 20 Shows, die ich bisher für Vivienne Westwood gemacht habe, war die Gold Label SS10 Show vergangenen September in Paris etwas ganz Besonderes. Die Show fand in diesem wunderschönen Gebäude im 7. Arrondissement statt, der Catwalk lief durch mehrere Räume. Haare und Make-up waren echt außerirdisch – Blade Runner meets Barry Lindon –, und der Soundtrack brachte – mit klassischer Musik, Oper, Sid Vicious’ „My Way“, Girls Aloud, den Yeah Yeah Yeahs und Electro – die ganze Westwood-Ästhetik auf den Punkt. Und erst die Kleider, ein Traum! Im Publikum waren sich alle einig, dass das Viviennes beste Show seit Jahren war.

Wie wählst du die Tracks für eine Show aus?
Normalerweise bekomme ich von den Designern ein detailliertes Briefing, worum es in der Kollektion geht, was die Inspiration war und so weiter. Ich stelle dann eine Auswahl an Tracks und Songs zusammen, wir entscheiden, was am besten passt, und anschließend mische ich im Studio gemeinsam mit meinem langjährigen Co-Produzenten Andrea Gorgerino (mit dem ich auch als JBAG elektronische Musik mache und remixe) den Soundtrack. Von den Vivienne-Westwood-Shows zum Beispiel gibt’s, seit ich dabei bin, jedes Mal sehr positives Feedback. Und für mich ist es eine große Ehre, dass die Musik bei Viviennes Shows jetzt wieder mehr im Mittelpunkt steht, gerade weil Vivienne ja diesen legendären Background in der Punk- und New-Romantics-Szene hat. Andreas (Kronthaler, Westwoods Lebensgefährte und Labelpartner, Anmerkung) und sie wissen vielleicht nicht immer genau, was sie wollen. Aber sie wissen definitiv, was sie nicht wollen – und das macht die Zusammenarbeit mit ihnen viel einfacher als mit Leuten, die keine konkrete Vorstellung davon haben, was zu ihrem Label passt.

Gibt es ein ideales Catwalk-Tempo?
Im Allgemeinen laufen die Shows ungefähr zu 120 Beats per Minute ab. Im Club haben die meisten Tracks zurzeit 125 bis 130 BPM. Früher war das anders, da liefen im Club langsamere Nummern, Downtempo-Grooves, schnelle Rocksongs – alles ganz gemischt. Wegen der ganzen Housemusic und, äh, einfallslosen DJs ist das Tempo jetzt fast die ganze Nacht hindurch dasselbe. Das ist ziemlich monoton, warum soll man sich auf ein Genre beschränken?

Bist du da eher eklektisch?
Ich persönlich versuche, so viele Styles wie möglich zu mixen, im Club und bei den Shows. Damit hält man das Publikum bei Laune. Ist das Tempo bei einer Fashionshow zu schnell, klingt es wie im Club, und das passt überhaupt nicht. Die Beats geben zwar den Rhythmus auf dem Catwalk vor, aber die Musik soll in erster Linie glamourös, chic und sexy wirken. Designer lieben es, wenn ihre Klamotten mit coolen, edgy Sounds assoziiert werden, die es vielleicht noch gar nicht zu kaufen gibt. Also bin ich ständig auf der Suche nach neuer Musik, die diesen Kriterien entspricht.

Du legst ja auch bei vielen Mode-affinen Events auf. Was fasziniert dich an der Fashionszene?
Die Welt der Mode ist einer der wenigen künstlerischen Bereiche, der nicht primär auf Gewinnmaximierung ausgelegt ist. Natürlich sind da die großen Labels, die nur an ihre Verkaufszahlen denken. Aber die Designer, mit denen ich kollaboriere, arbeiten in kleineren Strukturen und haben immer noch diese romantische Idee, Künstler zu sein, etwas Originäres, Einzigartiges zu schaffen, obwohl sie gleichzeitig auch Unternehmer sind. Diese Leute respektiere ich sehr, weil sie zur Verwirklichung ihrer Vorstellungen große Opfer bringen.

Bei welcher Show hattest du zur Vorbereitung am wenigsten Zeit?
Hmm, das war bei Kokon To Zai. Die KTZ-Designer Marjan Pejoski und Sasha Besovski leben in Bali und fliegen meistens erst ganz knapp vor der Fashion Week nach Europa. Einmal hatte ich gerade 24 Stunden Zeit, vom Briefing bis zum Zusammenstellen des Soundtracks im Studio, eine richtige Last-Minute-Aktion. Und natürlich hatten sie zwischendurch immer noch ein paar kleine Änderungswünsche, haha! Ich liebe die zwei.

Gibt es ein Label, für das du nicht auflegen würdest?
Gute Frage. Ich denke, man kann mit jedem Job Erfahrungen sammeln, aber Geld sollte nie die Hauptmotivation sein. Abgesehen davon, finde ich es reizvoll, manchmal der kleine Störfaktor im System zu sein – verstehst du, was ich meine? Es ist viel interessanter, das System von innen zu unterwandern, als draußen zu bleiben, wo dich niemand beachtet. Ich hatte das Glück, bei der Launchparty der Sonia-Rykiel-Kollektion für H&M vergangenen Dezember im Grand Palais in Paris aufzulegen. Das war übrigens die stylischste Party, auf der ich je war. Einem großen Brand wie H&M würde ich zum Beispiel unglaublich gern ein cooles musikalisches Gesamtkonzept verpassen. Das wäre mal eine echte Herausforderung.

Foto & Track: SoundCloud