180 Stiche pro Minute

180 Stiche pro Minute

Erschienen in INDIE #12, Herbst 2006

Kann man Mode und Musik abseits von Bling Couture à la Missy Elliott oder Pharrell Williams unter einen Hut bringen? Man kann. BPitch-Chefkontrolleurin Ellen Allien, das japanische Multitalent Satoshi Date und das Pariser Label Kitsuné ziehen ihre Fans jetzt auch an.

Was wäre Karen O ohne ihre wahnsinnigen Spaceballerinen-Outfits? Hätten Franz Ferdinand auch in unförmigen Tracksuits und ausgelatschten Converse die Indieherzen erobert? Und würde es Pete Doherty ohne das von Hedi Slimane maßgeschneiderte Stylekorsett überhaupt noch geben?

Wie die perfekte Symbiose aus Pop und Fashion als oberflächenverliebte Disziplinen zeigt, kann das Zusammenleben für beide Partner äußerst nützlich sein. Vor allem dann, wenn beide Bereiche von ein und derselben Person kontrolliert werden. Siehe Missy Elliott, Pharrell Williams, Gwen Stefani oder Jay-Z und Damon Dash, die das in Videoclips, Homestories und VH1-Dokus etablierte Bling-Universum mit ihren Eigenlabels kommerziell höchst erfolgreich weiterführen. Dass da der Geschmack weit gehend auf der Strecke bleibt, scheint den Fans egal zu sein. Hauptsache, Reserve-Pharrell und Westentaschen-Gwen können sich einmal wie die Originale fühlen.

Nicht nur rein geografisch bewohnt Ellen Allien einen völlig anderen Planeten. Auch mit ihrem neu gegründeten Label “Ellen Allien Fashion” geht die Berlinerin, wie schon als BPitch Control-Betreiberin, Produzentin und DJ, einen von der eigenen Intuition geführten Weg. Dass Mode in ihrem Leben eine wichtige Rolle spielen würde, wusste sie schon als 18-Jährige und wollte nach dem Abitur eigentlich Modedesign studieren. Eine vorbereitende Ausbildung wurde allerdings bald abgebrochen, zu viel Wert sei ihrer Meinung nach auf den technischen Aspekt gelegt worden und die Kreativität dabei zu kurz gekommen.

Entstanden ist die Idee zu “Ellen Allien Fashion” schließlich aus den auf DJ-Reisen quer über den Globus gesammelten Erfahrungen, aus Eindrücken aus dem Alltagsleben. Und genau dort, im Alltag, sollen die Kleider, Röcke und Tops aus feinem Baumwolljersey zum Einsatz kommen, wobei im Grunde natürlich auch nichts gegen einen temporären Exkurs in den Club spricht. Weiblich gibt sich die Kollektion generell, sehr tragbar und überraschend verspielt, mit Raffungen, Volants und geschwungenen Ziernähten. Bügeln ist übrigens verboten. Verweigert wird von der Neo-Designerin außerdem die unreflektierte Übernahme von Körpernormen, wie sie etwa die eingangs erwähnten Vanity-Modelinien unmissverständlich einfordern. Denn für die Fittings würden nicht fiktive Airbrushwesen mit Idealmaßen herangezogen, sondern schlicht und einfach ihr eigener Körper.

Ganz ohne fremde Hilfe geht es allerdings selbst bei Ellen Allien nicht, in Sachen Schnitt und Produktion vertraut sie auf das Knowhow des bereits für Dior, Lanvin und Plein Sud tätigen Designers Markus Stich.

Erhältlich ist “Ellen Allien Fashion” erfreulicherweise nicht nur bei Schwarzhogerzeil und Apartment in Berlin, sondern auch direkt über den Bpitch Control-Onlineshop.

Etwas weniger down-to-earth geht es bei Satoshi Date zur Sache. So trägt die aktuelle Kollektion etwa den Titel “The Relationship between Hearing and Vision”. Kein Wunder, hat der in Tokio geborene und derzeit in London lebende Künstler seine Ausbildung doch am Central Saint Martins College absolviert, wo avantgardistisches Querdenken und fluffiges Theoretisieren in jeder Disziplin quasi auf dem Stundenplan stehen. Wie ein postmoderner Leonardo da Vinci investiert das Multitalent seine Kreativität in Malerei, Musik, Fotografie, Video, Illustration und Fashiondesign gleichzeitig. Obsession, ja bitte! Dass seine Werke ausgerechnet auf der Online-Kunstplattform “Panik” veröffentlicht werden, passt da auch wieder ganz gut.

“I live today as I am going to die tomorrow. I dream tomorrow as I can live forever”. Vielleicht liegt darin ja der Grund für Dates genreübergreifendes Multitasking. Aller Theorie zum Trotz sind es die Menschen, die Kommunikation mit anderen und die Beobachtung menschlicher Interaktion, die ihn zu seinen Designs zwischen japanischer Samuraitradition und futuristischer Spaceage-Funktionalität inspirieren. Das Leben an der Schnittstelle scheint Dates bevorzugtes Biotop zu sein, wo sich Gegensätze wie urban und ländlich, feminin und androgyn, starr und fließend berühren. Wie Londons führendes Enfant terrible, Gareth Pugh, spielt auch er mit Körperumrissen, bläst Röcke zu Seerosenköpfen auf, spannt Stricknetze quer übers Gesicht, polstert Schultern auf Footballspieler-Breite.

Ähnlich zerrissen wirkt seine Musik, die Date teils unter seinem Namen, teils als Sol Zola veröffentlicht. Wie der abgefahrene Cousin von Devendra Banhart oder Vincent Gallo singt der bekennende Noise-Fan unerwartet sanftmütig über pulsierende Ambient-Flächen oder akustische Gitarrenbegleitung. Was jetzt verdächtig nach Artsy-Fartsy-Getue klingt, gelingt ihm um einiges sympathischer als anderen Grenzgängern zwischen Konzeptkunst und Pop-Appeal, wie etwa den Chicks On Speed. Ob Satoshi Date damit die große weite Welt des Pop erreichen kann, ist fraglich. Wollen würde er schon. “Sign me, please! I don’t have any contract!”

Vielleicht erhört ihn ja Gildas Loaec. Der Mann mit dem unaussprechlichen Namen ist einer der Köpfe des Pariser Labels Kitsuné. Das Kunst-Musik-Designkollektiv rund um den Daft Punk-Labelmanager hat mit Hot Chip nicht nur einen der derzeit heißesten Acts weltweit entdeckt und ist außerdem mit der “Kitsuné Maison: Compilation II” in den wichtigsten Plattentaschen des DJ-Universums vertreten. Man kann sich jetzt auch in Kitsuné kleiden. Wie prächtig das Wechselspiel zwischen Musik und Mode vor allem in Paris funktioniert, haben bisher schon Jean Touitous Fashionlabel A.P.C. mit eigener CD-Edition und die von Elektronikfans wegen der exklusiven Remixes geradezu hysterisch verehrte, siebenteilige “Colette”-Compilationreihe gezeigt.

Nach erfolgreicher Übernahme der Plattenregale macht sich Kitsuné also ab sofort an die Attacke auf die Kleiderschränke. Und im Gegensatz zum Labelsound, zu den grellen, knalligen Dancefloor-Smashern, nimmt sich die aus schlichten Cardigans, V-Pullis, Poloshirts und Hemden bestehende Kitsuné-Kollektion richtig zurückhaltend aus. Die Schnitte sind klassischer Collegestil, auch die Stoffauswahl liest sich eher wie eine Bestellliste von Harrod’s - Kaschmir aus Schottland, feinste Baumwolle aus Frankreich und handverlesener Denim aus Japan. “Eigentlich wollten wir endlich Geld verdienen. Als kleines Independentlabel haben wir das bisschen, was wir verdient haben, sofort wieder in die Kollektion investiert. Wir sind ständig auf der Suche nach neuen Stoffen und guten Herstellern. Und weil wir so klein sind, ist es recht schwierig, weil wir ja nicht gleich 1.000 Stück bestellen, sondern nur so 70 bis 80”, so Kitsuné im Interview mit einem englischen Elektronikmagazin.

Bands wie Air oder Phoenix zum Beispiel würde der Kitsuné-Look sehr gut passen, oder Ivan Smagghe, Jennifer Cardini und der restlichen Pariser DJ-Elite. Für einen spontanen Besuch beim nächsten Kurzurlaub steht der Kitsuné-Showroom in der Rue Thérèse in Paris allerdings nicht offen, man bittet um telefonische Voranmeldung, so viel Exklusivität muss sein. Sonst könnte man ja gleich Missy heißen und seine Teile beim nächstbesten Sportswear-Massenartikler feilbieten.

Mittlerweile heißen die erfolgreichsten Musiker-Slash-Designer Kanye West und Pharrell Williams, für deren mehr oder weniger überteuerte, mehr oder weniger zerfetzte Sportswear ich mich allerdings nicht begeistern kann. Ellen Allien entwirft immer noch sehr schöne T-Shirts, Satoshi Date hat in Handyaccessoires diversifiziert, und Kitsuné machen nach wie vor fantastische Dinge. Kaffee schenken sie nebenbei auch aus.

Foto: MetroLyrics