Haute Couture zum Schleuderpreis

Haute Couture zum Schleuderpreis

Erschienen in INDIE #13, Winter 2006

Ein Blazer von Karl Lagerfeld, ein Cocktailkleid von Roland Mouret, eine Ledertasche von Sophia Kokosalaki - und das alles von H&M, Gap und La Redoute? Seit sich die High Fashion weltweit auf Kooperationen mit dem Massenmarkt einlässt, kennen plötzlich auch Nicht-Insider Namen wie Viktor & Rolf oder Stella McCartney.

London, 9. November 2006, 7.15 Uhr. Vor dem H&M-Flagshipstore am Oxford Circus bietet sich ein für die Tageszeit ungewohntes Bild. Im trüben Licht des Morgens versammeln sich die ersten Schaulustigen vor dem noch geschlossenen Shop. Ein dramatisch verhülltes Schaufenster gibt den entscheidenden Hinweis: “Viktor & Rolf for H&M. Launch November 9th”. Um 8 Uhr, eine Stunde vor Ladenöffnung, spielen sich Szenen ab, die man sonst nur von Star Trek-Filmpremieren und ausverkauften Sommerfestivals kennt. Die Menschenschlange reicht schon weit um die nächste Straßenecke, verschlafene Fashionistas dopen sich mit Kaffee aus Pappbechern, SMSen mit dem genauen Standort werden verschickt. Passanten werfen den Wartenden amüsierte Blicke zu, aber zufällig steht hier wirklich niemand herum. Alles ist genau geplant, die Anwesenden haben detaillierte Shoppinglisten im Kopf. Das ist auch notwendig, denn als um 9 Uhr die automatischen Türen aufgehen, heißt es schnell sein. Hunderte Menschen versuchen gleichzeitig, den für die Viktor & Rolf-Kollektion reservierten Bereich zu orten und trotzdem schneller zu sein als der Rest. Sekunden entscheiden über Sieg oder Niederlage, ob man die richtige Größe erwischt oder sich mit dem Trostpreis in XXL zufrieden geben muss. Um 10 Uhr wird bereits die zweite Lieferung hereingebracht. Wieder einmal scheint das Konzept des schwedischen Textilriesen, große Namen aus der Fashionwelt in die Niederungen des Massenmarktes zu holen, prächtig aufgegangen zu sein.

Was das Publikum hier fasziniert, liegt auf der Hand. Das vermeintliche Stück High Fashion verheißt einen Hauch Eau de Lagerfeld, einen kurzen Blick ins Universum von Roland Mouret, für einen Moment lang kann man sich in Kate Moss hineinversetzen. Da ignoriert man gern die Tatsache, dass natürlich in Serie produziert wird und dass die Qualität nicht einmal entfernt an die der Originalkollektion heranreicht.

Doch was treibt Designer wie Stella McCartney oder gar Couturier André Courrèges, dessen Linie “Couture future” ab Frühjahr 2007 ausgerechnet beim Versandhausriesen La Redoute erhältlich sein wird, zur Kooperation außerhalb der üblichen, kaufkräftigen Zielgruppe?

Im PR-Text liest sich das üblicherweise folgendermaßen: “Wenn die Haute Couture die anspruchvollste Form der Mode ist, dann ist H&M besonders demokratisch. Wir kommen aus der Haute Couture, sie ist Herz und Seele unserer Arbeit.” Danke, Viktor & Rolf, für diese Klarstellung. Und weiter: “Aber wir spielen auch gerne mit dem Gegenteil. Verwandlung ist ein Kernelement unseres Stils. Für uns ist Mode das Gegenstück zur Realität. Die Zusammenarbeit mit H&M ist eine großartige Möglichkeit, unsere Vision mit einem so großen Publikum wie H&M es hat, zu teilen”. Na klar, soll man die Hand beißen, die einen füttert? Und mit den potentiellen Kunden möchte man sich ebenfalls gutstellen.

Ganz auf der Höhe der Zeit auch Karl Lagerfeld, der sich als erster für das Experiment “High Fashion für die Massen” eingelassen hat: “Ich fand die Idee modern. Design ist sehr wichtig, und Design ist keine Preisfrage mehr. H&M hat Günstiges wünschenswert gemacht.”

Etwas ehrlicher, was ihre Motivation angeht, war da schon Stella McCartney, die klipp und klar feststellte, für H&M eine einmalige Kollektion zu entwerfen, sei eine der aufregendsten und innovativsten Möglichkeiten, ihre Bekleidung populärer zu machen.

Dabei kann sich der gewünschte Popularitätsschub mitunter ins Gegenteil verkehren, wenn nämlich das Endprodukt nicht wirklich mit der im Vorfeld geschürten Hysterie mithalten kann. So geschehen bei Kaiser Karl, dessen Kreationen bereits nach wenigen Wochen auf den Ständern mit der reduzierten Ware landeten. Ungeeignetes Material, schlampige Schnitte, selbst für Billigstandards schlechte Verarbeitung - und vielleicht hätte man mit dem Konterfei von Monsieur Chanel auch ein bisschen sparsamer umgehen sollen. Diesen November wurde schließlich mit viel Brimborium die mit 65 Stücken bisher größte H&M-Designerkollektion von Viktor & Rolf gelauncht, inklusive des berühmten Brautkleids von der Stange um 298 Euro. “Für uns gibt es keinen Unterschied zwischen Kunst und Kommerz, die Intention ist dieselbe”, beteuert Viktor, die mit etwas mehr Bart ausgestattete Hälfte des Designerduos mit den markanten Hornbrillen. Selbstverständlich hatte man vollständige kreative Kontrolle, von kleinen Details wie Knöpfen bis hin zur Auswahl der Fotografen für die Kampagne, Inez van Lamsweerde und Vinoodh Matadin. Betrachtet man die großteils mäßig inspirierten Teile, in denen selbst Glamourgirls zu braven Handarbeitslehrerinnen mutieren, wird einem allerdings schnell klar, dass der gewohnte avantgardistische Ansatz irgendwo zwischen Atelier und Shopfloor auf der Strecke geblieben sein muss.

Im Allgemeinen gilt für Kooperationen zwischen High Fashion und Massenmarkt, dass sich die weniger aufregenden Kollektionen besser verkaufen. Adidas zum Beispiel hat mit Stella McCartney und ihrer vergleichsweise konventionellen Sportswear offensichtlich den richtigen Riecher bewiesen. “Der weltweite Erfolg der Kollektion übertrifft weiterhin all unsere Erwartungen”, bestätigt Hermann Deiniger, Adidas Global Brand Creative Director. Dank des erzielten dreistelligen Umsatzzuwachses wurde die Partnerschaft mit der britischen Designerin soeben bis 2010 verlängert.

Beim weltweit drittgrößten Versandhaus La Redoute hat die Verbindung aus exklusivem Design, qualitativ hochwertiger Produktion und leistbaren Preisen seit 1969 Tradition. Couturiers wie Yves Saint Laurent, Jean Paul Gaultier, Sonia Rykiel oder, gerade aktuell, Sophia Kokosalaki nützen die Chance, das breite Publikum via Katalog zu erreichen und ihren Bekanntheitsgrad beträchtlich zu steigern. Ergibt demokratisches Einkaufsvergnügen für alle, die nicht in Shoppingmetropolen wohnen und sich trotzdem ein lässiges schwarzes Tunikakleid von Sophia Kokosalaki um 160 Euro leisten wollen.

Apropos Shoppingmetropole: Das Mekka für Fans von Designerfashion zu Killerpreisen ist wohl nach wie vor Großbritannien. Fast jede High Street-Kette arbeitet mit limitierten Kollektionen von Image-Zugpferden wie Bella Freud für Miss Selfridge, Matthew Williamson, Julien Macdonald und Frost French für Debenhams oder Giles Deacon für New Look.

Mit der Schlagzeile “Kate Moss designt für Topshop” hat der britische Superstore aber wieder einmal die Nase vorn. Doch davon später.

Tatsache ist, dass Topshop seit über einer Dekade ernsthafte Nachwuchsförderung betreibt und sich so zur begehrten Anlaufstelle von Stylisten und Fashionfans weltweit entwickelt hat. Einerseits nämlich als Sponsor der London Fashion Week und der Jungdesignerschienen New Generation und Fashion East. Da scheinen unter den bisher Geförderten so prominente Namen wie Alexander McQueen, Clements Ribeiro, Gareth Pugh und Marios Schwab auf. Auch die Protagonisten des aktuellen New Rave-Trends, Deryck Walker und Cassette Playa, haben dieses Jahr ihre Chance auf eine öffentlichkeitswirksame Show im Rahmen der LFW erhalten.

Andererseits stellt Topshop relativ unbekannten Designern ansonsten unbezahlbare Shopfläche im Flagshipstore am Oxford Circus zur Verfügung. Was bedeutet, dass man zurzeit neben den omnipräsenten Skinny Jeans, Ankle Boots und Oversize-Bags etwa auch die Minikollektionen von Preen, Markus Lupfer und Ann-Sofie Back erwerben kann. Eine klassische Win-Win-Situation also, in der der große Partner von der Credibility der Jungdesigner profitiert und diese wiederum von den Tausenden Shoppern, die sich tagtäglich durch die Kleiderständer wühlen. Alles potentielle künftige Käufer, und diese Hoffnung lässt etwaige Skrupel, ob man sich vielleicht gleich zu Beginn der Karriere ausverkauft und an die böse “Industrie” ausliefert, gleich gar nicht aufkommen. Erfrischend pragmatisch, das Ganze.

Einer, der längst schon selbst die Hypemaschinerie kräftig antaucht, ist Roland Mouret. Seine Bekanntheit außerhalb der Fashionzirkel verdankt der französische Designer und Hollywood-Darling mehr oder weniger einem einzigen Stück: dem Galaxy Dress. Ohne das It-Dress wagte sich vergangenes Jahr kaum eine Schauspielerin auf den roten Teppich. Scarlett Johansson, Cameron Diaz, Sienna Miller, Keira Knightley, Demi Moore und Rachel Weisz, sie alle ließen sich in dem spektakulären, an Filmstars der 1940-er Jahre erinnernden Fummel fotografieren. “Als Designer muss man Frauen respektieren. Wenn Kleider nicht passen, verkaufen sie sich nicht”, so Mourets Maxime. “Dann kann man sie gleich im Museum ausstellen.”

Gerade als die kommerzielle Karriere gesichert schien, überwarf sich Mouret mit seinen Geldgebern und stieg aus seinem eigenen Label Roland Mouret Designs aus. Da kam ihm das Angebot einer Zusammenarbeit mit der US-amerikanischen Kette Gap gerade recht. Seit November sind jetzt die 10 Designs, vom klassischen Little Black Dress bis zum roten Minikleid mit Trompetenärmeln, erhältlich. Leider nicht hierzulande, aber für die wirklich gelungenen Teile würde sich ein spontaner Shoppingtrip nach London oder Paris auf jeden Fall auszahlen, schließlich liegen die Preise bei günstigen 67 bis 115 Euro. Wenn Material und Verarbeitung halten, was die Pressefotos versprechen, klingt das nach kleiner Sensation. Geschickt kalkuliertes Understatement schwingt mit, wenn Mouret über sein Gap-Engagement spricht: “Bei meinen Designs war mir immer schon wichtig, dass man sie wie Jeans und T-Shirt tragen kann, und genau darum geht es bei Gap. Jede Frau wird diese Kollektion tragen können.”

Mit gutem Gewissen noch dazu, denn der mit den drei roten Kleidern erzielte Verkaufserlös geht zu 50 Prozent an die AIDS-Charity (Product) RED.

Noch bis April 2007 müssen sich Fans von Kate Moss gedulden, bis die bereits erwähnte Kooperation mit Topshop in die Läden kommt. “Ich war schon immer ein großer Topshop-Fan und kaufe dort regelmäßig sein”, bekennt die Designerin in spe. “Ich finde es toll, wofür Topshop steht, und freue mich schon sehr auf die Zusammenarbeit. Das wird großen Spaß machen.” Ja sicher, sofern man unter Spaß versteht, den eigenen Namen unter die fertige Kollektion zu setzen und, dem Wunsch von Firmenchef Philip Green entsprechend, “Kate Moss for Topshop” zur Weltmarke zu machen. Dass das Topmodel tatsächlich in den Entwurfsprozess involviert ist oder sogar zum Skizzenblock greift, daran glaubt ja wohl niemand. Stattdessen soll Kate Moss die für kommendes Jahr geplante Expansion des Unternehmens in die USA promomäßig unterstützen.

Was sich dann am Tag X vor den Topshop-Filialen abspielen wird, kann man sich nach dem eingangs geschilderten Hype um Viktor & Rolf schon jetzt lebhaft vorstellen.

Kate Moss für Topshop kenne ich auch 2016 nur aus der Ferne, dafür hängen immer noch ein Blazer und eine Bluse aus der “Stella McCartney × H&M“-Kollektion auf der Kleiderstange. Das „Karl Lagerfeld × H&M“-Nachthemd hat auch schon bessere Tage gesehen, die Lanvin-Sachen für H&M habe ich schließlich am Flohmarkt verkauft.

Foto: GabeTex