Gestatten: Muse

Gestatten: Muse

Erschienen in material girl #7, Herbst 2009

Sie wohnen in Henry Hollands Apartment, lassen sich Arm in Arm mit Marc Jacobs fotografieren – und sind dabei einfach nur sie selbst: Haben Musen den besten Job in der Modebranche?

Warum ist es immer Karl Lagerfeld, der einem als erster in den Sinn kommt? Egal, ob es um Diäten, iPods oder die Top Ten der Männer mit den dünnsten Hälsen geht, für Monsieur K. gilt stets dasselbe Motto: Been there, done that, posted it on Twitter.

Auch bei den Gedanken, die man sich anlässlich der kürzlich im New Yorker Metropolitan Museum zu Ende gegangenen Ausstellung „The Model as Muse: Embodying Fashion“ macht, poppt sofort ER auf. Und zwar als der Designer, der wohl den größten Verschleiß an Musen in der Geschichte des Modebusiness zu verzeichnen hat. Zur Erinnerung: Da waren Claudia Schiffer, Stella Tennant, Carmen Kreuzer, Daria Werbowy, Coco Rocha, Lily Cole, Toni Garrn, Irina Lazareanu, Anna Mouglalis, Beth Ditto, Emma Watson und Lily Allen. Fortsetzung folgt.

Obwohl Lagerfeld seine Inspirationsgeberinnen also offensichtlich schneller wechselt als die weißen Krägen an seinem Hemd und so manche Favoritin – hallo Clohdia! – relativ emotionslos abserviert, gilt die Jobbeschreibung „Karls Muse“ als Qualitätssiegel. Oder zumindest als Garant, für ein paar Tage im grellen Licht der Weltöffentlichkeit zu stehen.

Dabei fing alles recht seriös an. Als Coco Chanel, Elsa Schiaparelli, Madeleine Vionnet und Paul Poiret in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ihre Pariser Salons aufsperrten, galten die schönen Künste als klassischer Quell der Inspiration. Vionnet blickte auf die griechische Antike, Poiret zum Art Déco, und Schiaparellis Naheverhältnis zum Surrealismus und zu Salvador Dalí fand bekanntlich im berühmten „Lobster“-Dress seinen Niederschlag. Als fortschrittlich denkende Geschäftsfrau erkannte Schiaparelli bereits damals, dass Musen nicht nur zur Anregung der eigenen Fantasie, sondern durchaus als „Türöffner“ zur Erschließung neuer Käufergruppen dienen konnten. „Ich sollte die zahlungskräftige englische Klientel anziehen“, so pragmatisch sah die 2009 verstorbene Maxime de la Falaise, exzentrische Britin aus bester Familie, ihre Rolle als Schiaparellis Model und Vertraute. Das Talent zur Muse gab Maxime später an ihre Tochter weiter: Angeblich war es Loulou de la Falaise, die Yves Saint Laurent zu seinem legendären Smoking inspirierte.

Der guten Gesellschaft anzugehören, war dem Musendasein im allgemeinen nicht abträglich. Während sich andere den schnöden Dingen des Lebens widmeten, blieb der wohlhabenden Bohemienne genug Zeit, ihren persönlichen Stil zu kultivieren. Mitzah Bricard zum Beispiel, eine von Christian Diors „Inspirationsquellen“ in den 1940-ern, trug immer einen Schal mit Leopardenmuster, um eine Narbe am Hals zu verbergen. Dieser Look veranlasste Dior dazu, beim französischen Seidenfabrikanten Bianchini Ferier einen speziellen Leopardenprint in Auftrag zu geben – und inspirierte John Galliano knappe 60 Jahre später zur aktuellen Dior Cruise-Kollektion 2010.

Zu den begüterten Socialites zählten auch Yves Saint Laurents Musen: Neben der bereits erwähnten Loulou de la Falaise prägte vor allem die Diplomatentochter Betty Catroux den typischen YSL-Stil. Alles an ihrer Erscheinung war androgyn – schlaksige Figur, schwarze Lederstiefel, weiße Herrenhemden –, was Saint Laurent höchst attraktiv fand. „Es war eine körperliche Anziehung“, erinnert sich Catroux. „Er mochte mein Aussehen. Er wollte, dass ich sofort für ihn arbeitete, mit ihm gemeinsam eine Kollektion machte.“ Ende der 1960er stieß außerdem das Model Talitha, Ehefrau des US-amerikanischen Ölerben Paul Getty, zur bourgeoisen Clique rund um den französischen Designer und brachte Londoner Hippie-Flair nach Paris. „Als ich Talitha kennen lernte“, erzählte Yves Saint Laurent später in einem Interview, „änderte sich meine Sicht auf die Welt vollkommen.“

Im Musenuniversum des Swinging London hatte sich der Paradigmenwechsel bereits vollzogen: Models wie Jean Shrimpton, Peggy Moffitt, Veruschka und vor allem Twiggy verkörperten das neue Ideal von Jugendlichkeit perfekt und schickten die vormals maßgeblichen Societyladys in den Ruhestand. „Mannequin“ wurde zu einem Beruf, bei dem Eltern nicht mehr sofort die Nase rümpften. Das obsessive Verhältnis zwischen dieser ersten Welle an Supermodels zu Fotografen wie David Bailey und Designern wie Rudi Gernreich wurde sogar auf Celluloid gebannt: In Michelangelo Antonionis Klassiker „Blow Up“ räkeln sich Veruschka und die blutjunge Jane Birkin vor der Kamera, und in William Kleins Satire „Qui êtes-vous, Polly Maggoo?“ haben sowohl Peggy Moffitts charakteristischer schwarzer Pilzkopf als auch Gernreichs legendärer Monokini einen Kurzauftritt.

Ab den 1980ern wechselten die Musen erneut die Profession: Vereinzelt sorgten zwar noch Models wie Inès de la Fressange – bei Lagerfeld und Thierry Mugler – für die Inspiration, der kreative Input stammte jetzt aber mehr und mehr aus dem direkten Arbeitsumfeld. Aus passiven „Musen“ wurden aktive „Creative Directors“, und nicht selten waren diese gleichzeitig auch Fashion Editors. Und zwar bei genau jenen Magazinen, die wiederum über die jungen, aufstrebenden Designer berichteten. Alles natürlich reiner Zufall. Dass etwa Gucci in den 1990ern deshalb so groß wurde, weil Tom Ford zuvor bereits mit einer gewissen Carine Roitfeld als Stylistin gearbeitet hatte, die später zur Chefredakteurin der Vogue Paris avancieren sollte, ist sicher nur ein böses Gerücht.

Zu diesen aus Designern und Journalistinnen bestehenden Power Couples zählten unter anderem Helmut Lang/Melanie Ward und John Galliano/Lady Amanda Harlech sowie die Dreiecksbeziehung Alexander McQueen/Isabella Blow/Katy England. Amanda Harlech hält übrigens gar nichts von der Bezeichnung „Muse“: „Ich finde das reichlich altmodisch“, meinte sie in einem Gespräch mit der britischen Tageszeitung The Guardian. „I think I’m more amusing.“

In den 1990ern drehte sich schließlich alles um die Supermodels: Claudia Schiffer, Cindy Crawford, Kate Moss, Linda Evangelista, Naomi Campbell und Christy Turlington verkörperten den Zeitgeist des Luxusjahrzehnts ebenso perfekt wie Twiggy & Co. den der Sixties. Mit dem Unterschied, dass inzwischen die Musen den Ton angaben und ihre millionenschweren Arbeitgeber Versace, Azzedine Alaïa und Dolce & Gabbana nach ihrer Pfeife tanzen ließen. Die Supermodels seien wie Wesen aus einer anderen Welt gewesen, schwärmt Andreas Kronthaler, Ehemann von Vivienne Westwood. „Linda Evangelista war unglaublich professionell. Du konntest sie tonnenschwer mit Klamotten behängen, und sie schwebte trotzdem überirdisch schön über den Laufsteg.“ Nach dem Ende dieser Ära wurde es sehr schwierig, die richtigen Mädchen zu finden, so Kronthaler, weil einfach keine mehr diesen speziellen Supermodel-Gang hatte.

Vielleicht liegt darin ja der Grund, warum Karl Lagerfeld seine Modelmusen mitterweile beinahe im Monatsrhythmus verschleißt und nicht davor zurückschreckt, diese anderen Kollegen auszuspannen. So geschehen mit Irina Lazareanu, deren Rock’n’Roll-Glamour zuvor bereits Balenciaga-Designer Nicolas Ghesquière inspiriert hatte. Es gibt aber auch stabilere Partnerschaften, wie zum Beispiel zwischen Riccardo Tisci und Mariacarla Boscono oder Henry Holland und Agyness Deyn. Das sei definitiv keine für die Medien ausgedachte Fake-Freundschaft, betont Holland. „Wir sind miteinander befreundet, seit wir 13 sind. Wir kommen aus demselben Ort. Und jetzt wohnen wir in New York seit zwei Jahren gemeinsam in einem Apartment.“

Auf das von Lagerfeld praktizierte, publicitywirksame Prinzip der Musen-Rotation vertraut übrigens auch Marc Jacobs. Ob Sofia Coppola, Madonna, Victoria Beckham, Lil’ Kim, Jessica Stam, Dita von Teese, Scarlett Johansson oder Anne Hathaway – sie alle haben schon Arm in Arm mit Jacobs in die Kameras der Paparazzi gegrinst. Vor allem aber profitieren It-Girls, nicht unbedingt für ihre Schauspielkunst bekannte Actricen und hauptberufliche Töchter vom Zweitberuf „Muse“. Beste Beispiele: Sienna Miller und Model/DJ/Clubhost Leigh Lezark, die Matthew Williamson angeblich „kreativ“ auf die Sprünge helfen, oder Julia Restoin, die, wie in den 1990ern Mama Carine Roitfeld, derzeit Tom Fords Fantasie ankurbelt.

Einmal mehr ist Kate Moss allerdings einen entscheidenden Schritt voraus: Während etwa Erin Wasson noch mit Alice Dellal um die Aufmerksamkeit von Fashion-Shootingstar Alexander Wang buhlt, bewegt sich Miss Moss als Muse der britischen Künstler Lucian Freud und Marc Quinn längst in anderen Sphären. Freuds Bild von der schwangeren Kate wurde 2005 um die ansehnliche Summe von 7,5 Millionen US-Dollar versteigert, der Materialwert von Quinns Goldskulptur – das Model nackt in akrobatischer Yogapose – liegt bei 1,5 Millionen US-Dollar. Damit hat Kate Moss ihren jüngeren Kolleginnen die Latte wohl ziemlich hoch gelegt.

Foto: Antimonide