Russen, Wodka und ein Hotel voller Kunst
Erschienen in INDIE #19, Sommer 2008
In Cannes herrscht nicht nur im Mai Festivalstimmung. Wie man auch ohne rote Teppiche, Blitzlichtgewitter und Moviemegastars feiern kann, zeigt das Fusion 5 Festival mit Outsider Art und Bands aus der Elektroszene.
Am Eingang zum Club an der Croisette steht Paul Sevigny. Chloës großer Bruder hält sich an seiner Bierflasche fest und wankt schon bedenklich. Seine Bandkollegen von A.R.E. Weapons ziehen eilig an Zigaretten und laden Umstehende zur Aftershowparty in ihrem Hotelzimmer. Drinnen in der Tanzhütte schütten sich Gina d’Orio und Annika Trost von Cobra Killer auf der Bühne billigen Rotwein über den Kopf. Und im Publikum reihen sich braungebrannte Jachtschuhträger an silikonverstärkte Hüfthosen-Girls und dreadlockige Cyberpunketten an tätowierte Ganzkörperkunstwerke. Was geht hier eigentlich in Cannes ab?
Im März 2008 ist von der Filmfestival-Stimmung an der Côte d’Azur noch nichts zu spüren. Die Strandclubs für die Jeunesse dorée werden gerade erst aufgebaut, das Karussell im Vergnügungspark dämmert ohne Fahrgäste vor sich hin. Von den legendären Hotels an der Strandpromenade hängen riesige Plakate, auf denen russische Boomregionen um Investoren werben, und bei Cartier werden die Preziosen im Schaufenster mit Preisschildern von 3 000 Euro aufwärts versehen.
Um die Ecke von Cartier, in der Hotelreihe hinter der Croisette, tut sich schon um einiges mehr. Im 3.14 Hotel, dessen Interior Design auf fünf Etagen eine Reise durch alle Erdteile nachstellt, lädt die Strychnin Gallery zum Fusion 5 Festival. An drei Tagen stellen 20 Künstler der in London, New York und Berlin ansässigen Galerie ihre Werke in den eigens adaptierten Hotelzimmern aus. Vorwiegend aus der internationalen Elektro-Szene stammende Musiker und DJs sollen am Vernissagenabend die Kunst live begleiten und, wie die bereits erwähnten Cobra Killer und die New Yorker Artpunks A.R.E. Weapons, auch für das Abendprogramm sorgen.
Schön und gut, ist man sich unter den anwesenden Journalisten einig, aber wie geht das alles zusammen? Low Art und zugeknöpfte Abgesandte der Vogue-Redaktion? Auf Leinwände gebannte gequälte menschliche Existenzen im Comic-Manga-Tattoo-Style und der schicke Ozeanien-Floor auf der dritten Etage mit Himmelbett und kühn geschwungenem Designersessel?
Solche Fragen geben am ersten Abend einen formidablen Gesprächsbeginn ab, über den weiteren Verlauf der Nacht macht man sich nach den ersten Drinks - die Festivalsponsoren sind unter anderem ein schwedisches Wodkaimperium und eine renommierte Champagnermarke - ohnehin keine Sorgen mehr. Man spaziert durch die Galerie im Erdgeschoss, zählt die Piercings der eingeladenen Artists und wundert sich über den das Liveprogramm startenden französischen Klamauk-Electro-Act La Chatte. Andere Länder, andere Sitten, noch ein Glas Champagner, und schon klingt es besser. Anschließend rechtfertigen A.R.E. Weapons das „Art“ in der Bandbeschreibung durch massiven Saxofon-Einsatz. Die Tröte des Satans reißt das Publikum schrill quäkend immer wieder aus seinem sanften Wodka-Taumel, erste Bekanntschaften zwischen schreibendem und künstlerischem Personal bahnen sich an.
Das Frühstückgespräch am nächsten Morgen dreht sich von der Zimmerausstattung („Asien hui! Afrika pfui!“) über die offensichtlich zahlreich vertretenen und arty ausexorzierten Kindheitstraumata bis zur Planung des abendlichen Vernissagen-Rundgangs.
Dieser beginnt ganz unten, in „Amerika“, und nach der Besichtigung der ersten Räume kristallisieren sich rasch die dominanten Themenwelten heraus: kindliche Unschuld und menschliche Monstrositäten, Identität und Individualität, abseitige Teenagerfantasien und die dunklen Seiten der Seele. Eben das klassische Repertoire der Outsider Art, und fast noch klassischer stellt sich die Erkenntnis ein, dass sich hinter den, sagen wir mal grenzüberschreitendsten, Kunstwerken in der Regel umgängliche, beredte und bisweilen ziemlich schüchterne Menschen verbergen. Auf die Ähnlichkeit eines ihrer mit großen Augen die Welt bestaunenden Comicmädchen mit Meg White angesprochen, erzählt die französische Grafikerin Marie Blanco Hendrickx aka Mijn Schatje stolz, dass die White Stripes-Schlagzeugerin tatsächlich eines ihrer Werke erstanden hätte. Der Illustrator Mark Verhaagen aus Rotterdam zählt zwar Companies wie MTV oder Vodafone zu seinen Kunden, wird aber im persönlichen Gespräch manchmal röter als sein T-Shirt. Und die Moskauer Künstlerin Oksana Badrak lässt es sich nicht nehmen, das leere Glas persönlich mehrmals mit dem omnipräsenten Champagner aufzufüllen, und herzt einen beim Hinausgehen derart, dass einem ganz schwindlig wird.
Auf der Reise hinauf nach „Asien“ in die fünfte Hoteletage stößt man bei Boris Eldagsen und Natascha Stellmach schließlich auf das interessanteste Projekt des Fusion 5 Festivals. Bei „Death On Tour“ werden die eintretenden Besucher im fingierten Augenblick ihres Todes fotografiert, das Bild wird anschließend digital verfremdet und mit einer erfundenen Story, wie die Abgebildeten zu Tode gekommen seien, versehen.
Nach dem Durchlaufen der 20 Kunsträume zieht der gesamte Tross in den eingangs beschriebenen Club weiter. Cobra Killer legen eine ihrer feuchtfröhlichen Performances hin, Rotwein fließt über die Bühne, die Stimmung kippt ins Euphorische. Man ertappt sich beim Aushirnen von cleveren Strategien, mit Paul Sevigny ins Gespräch zu kommen, ohne sofort die berühmtere kleine Schwester Chloë zu erwähnen. Und landet irgendwann bei der A.R.E. Weapons-Aftershowparty im Hotelzimmer, wo, très newyorkisch, schon wieder freejazzig improvisiert ins Saxofon getrötet wird, während die andere Hälfte der Band alkoholisierten Journalistinnen lustige Kugelschreiber-Tattoos auf die Schulter malt.
Beim abschließenden Frühstück am letzten Festivaltag kursiert das Gerücht, die zuvor noch streng zugeknöpfte Vogue-Autorin habe den Abend leicht bekleidet auf dem Hotelflur beendet und bange jetzt ernüchtert um ihren Job, sollte die Chefredaktion die indiskreten Partyfotos zu Gesicht bekommen. Das klingt doch ganz nach der intendierten Wirkung des Fusion 5 Festivals, die Menschen mit ihren inneren Dämonen zu konfrontieren und auszusöhnen. Diese Mission wäre erfüllt, jetzt darf Cannes bis zum Filmfestival durchatmen.