Echte Knochenarbeit

Echte Knochenarbeit

Erschienen in INDIE #27, Sommer 2010

In einer Welt, die sich zusehends vom Realen ins Digitale verlagert, steigt wiederum die Sehnsucht nach dem Greifbaren, dem Körperlichen. Das erklärt wahrscheinlich, warum sich gerade jetzt so viele Schmuckdesigner mit dem Material Knochen – vom nackten Gebein bis zum Silberabguss – auseinander setzen.

Natürlich sei er sich dessen bewusst, dass es manche Menschen vor seinen Ketten ekeln würde, gibt Nicomede Talavera zu. Aber das hat den 23-Jährigen, der zurzeit noch in Central Saint Martins studiert und als eines der meistversprechenden britischen Talente im Menswearbereich gilt, nicht davon abgehalten, für den Schmuck seiner Kollektion „Symbiote“ Kieferknochen von Hasen und Schafen zu verarbeiten. Dass man beim Anblick der Halsketten an prähistorische Rituale denkt, ist durchaus beabsichtigt. So sei zum Beispiel die Kultur der Neandertaler stark von rituellen, symbolischen Handlungen geprägt gewesen, sagt Talavera, und diese würden, wenn auch in abgeschwächter Form, in unserem modernen Leben bis heute eine Rolle spielen. Außerdem wollte er durch die Verwendung des nackten Gebeins auf die Schönheit eines Materials hinweisen, das von vielen als bloßes Abfallprodukt angesehen wird. Wo hat Talavera seine Knochen eigentlich gefunden? „Auf Ebay“, erzählt der Designer. „Ich konnte gar nicht mehr aufhören zu suchen, am Ende hatte ich fünf Pakete ersteigert. Leider stand nicht überall dabei, von welchen Tieren die Knochen stammten, und teilweise waren sie in einem so erbärmlichem Zustand, dass ich sie gründlich abschrubben und bleichen musste.“ Bei der Weiterverarbeitung ging Talavera mit größtmöglichem Respekt vor, weil er beim direkten Umgang mit den tierischen Relikten immer wieder an die eigene Vergänglichkeit denken musste.

Auch für Jenny Araskog sind Knochen als Symbol eng mit dem Ende des irdischen Lebens verbunden. Trotzdem dreht sich die aktuelle Accessoireskollektion der gebürtigen Schwedin, die nach ihrem Studium am London College of Fashion bereits bei Emilio de la Morena, Camilla Norrback und Jeremy Scott gearbeitet hat, nicht um das Thema Tod. Vielmehr sollen die mit unterschiedlich dicken Silberketten zu puristischem Hals- und Armschmuck zusammengeschmiedeten Knochen das Aufeinanderprallen von Natur und Zivilisation symbolisieren. Die Zivilisation sei unbarmherzig auf dem Vormarsch, so die Designerin, deshalb sehe sich die Natur gezwungen, das verlorene Terrain gewaltsam zurückerobern zu müssen, um so das Gleichgewicht wieder herzustellen. Ursprünglich wollte sie ihre Schmuckstücke ausschließlich aus Silber fertigen, spazierte dann aber auf einem Antiquitätenmarkt zufällig an einem Stand vorbei, der Knochen, ausgestopfte Tiere und allerlei exotischen Krimskrams verkaufte. Araskog war von der Schönheit der ausgestellten Schafsknochen fasziniert und fand, dass das Material von Form und Struktur her perfekt dazu geeignet war, die Grundidee der Kollektion – die fragile Balance zwischen dem Ursprünglichen und der zivilisierten Welt – zu transportieren.

Fragil, das ist ein Wort, das einem auch bei Aoi Kotsuhirois komplex gewickelten Halsketten und Armbändern in den Sinn kommt. Für ihre „Wet Moon“-Kollektion hat die japanische Designerin abwechselnd Mini-Totenköpfe, antike Gebetsperlen aus Holz, dunkelrote Granate und andere Schmucksteine auf Stränge aus Echthaar und Seide gefädelt. Und nein, die Totenköpfe sind hier ausnahmsweise nicht the real thing, sondern werden aus Porzellan gebrannt. Ihren Entstehungsprozess beschreibt Kotsuhiroi mit einem Gedicht:

Ein Fragment in meinen Fingern.
Zeichen und Symbole.
Eine kleine Perle aus Porzellan formt sich zum Totenkopf.
Ich flüstere ihm ins Ohr, bis er schläft…
Ich grabe ein Loch in den Boden,
entfache ein Feuer, für die Farbe.
Langsam senkt sich das Schwarz über die Form.
In der Erde erzählt das Feuer den Totenköpfen Geschichten.
Lange Zeit später komme ich wieder.
Grabe die Totenköpfe aus dem Boden.
Sie sind stumm wie das Schwarz, das sie umgibt,
und tragen doch die Klänge der Erde in sich.

Angesichts der vielen kleinen Porzellanschädel und der Gebetsperlen drängt sich unweigerlich die Gretchenfrage auf: Wie hält es Kotsuhiroi denn so mit der Religion? Der Mensch sei von Natur aus religiös, antwortet die Designerin. Er sei auf der Suche nach Spiritualität als Nahrung für seine Seele und als Antwort auf seine Fragen.

Ganz anders steht der New Yorker Schmuckdesigner Chris Habana zum heiklen Thema: Er nimmt Religion nämlich gar nicht ernst. Zwar wird in der aktuellen CHRISHABANA-Kollektion „Losing My Religion“ viel einschlägige Symbolik – vom Kreuz bis zum Reliquienknochen – aufgefahren. Wie dem eingangs erwähnten Nicomede Talavera geht es dem Designer aber hauptsächlich um den Aspekt des Rituals und dessen unterschiedliche Ausformungen – im Okkultismus, in der Voodoo-Religion und anderen religiösen Kulten. So sind für Habana zum Beispiel auch Punkkonzerte Rituale, weil das Publikum wie in Trance eine gemeinsame Handlung vollzieht, in diesem Fall eben Moshen und Slam Dancing. Dass er aber trotzdem stark von katholischer Ikonografie geprägt ist, mag daran liegen, dass Habana seine Kindheit auf den Philippinen verbracht hat. Aus dieser Zeit ist ihm das alljährliche „Moriones“-Festival in Erinnerung geblieben, bei dem die Menschen zu Ostern teils mit Pappmaché-Masken als römische Soldaten verkleidet, teils als sich selbst geißelnde Flagellanten durch die Straßen laufen und den Kreuzweg samt Kreuzigung nachstellen. Wen wundert es da noch, dass Habana am Thema Religion vor allem den Entertainmentfaktor schätzt und bei den Knochenelementen, die er in Halsketten und Armbänder einbaut, eher an Scooby Doo als an die Vergänglichkeit des Menschen denkt.

Der aktuelle Vampirtrend in Filmen und Fernsehserien ist für die kanadische Designerin Mireille Boucher mit ein Grund dafür, warum morbide Schmuckkollektionen derzeit eine Hochblüte erleben. Boucher selbst hat für ihr Label „Harakiri“ vor sechs Jahren ihren ersten Tierschädel in Edelmetall gegossen, als ihr ein Freund von einem Waldspaziergang das Skelett einer Ratte mitbrachte. Seit damals hat sie unter anderem Maus- und Vogelköpfe, Fischgräten und Klauen mit Silber, Gelb- und Rotgold überzogen, für größere Schmuckstücke verwendet sie das kostengünstigere Material Bronze. Weil sie beim Verarbeiten der fragilen Tierknochen mit Sauerstoff- und Propangasflaschen, Chemikalien und Schneidbrenner hantiert, denkt Boucher aus Sicherheitsgründen dabei lieber nicht über komplexe Themen wie Leben und Sterben nach – das gibt nur, wie sie vor ein paar Jahren schmerzlich erfahren musste, böse Brandwunden. Dass sie so viel Zeit dafür aufwendet, tierische Überreste in Schmuckstücke zu verwandeln, sei wahrscheinlich ihre Strategie, mit der Unausweichlichkeit des Todes fertig zu werden, meint die Designerin. Dabei habe sie vor dem Sterben gar keine Angst, irgend etwas würde „danach“ schon kommen, da sei sie sich ziemlich sicher. „Hauptsache, ich werde nicht als Kakerlake oder als Laborratte wiedergeboren“, lacht Boucher.

„Fraudulent Animals“, trügerische Tiere, nennt Jacki Holland ihre Skulpturen und Schmuckobjekte, die sie aus Tierknochen, Zähnen, Haaren und Wachs anfertigt. Nicht das Konservieren von Erinnerungen steht für die in Chicago ansässige Künstlerin im Mittelpunkt ihrer Arbeit, sondern der Versuch, der Unbeständigkeit des Lebens eine sichtbare und greifbare Form zu verleihen. Außer Knochen von Hühnern, Fischen und Coyoten gießt Holland auch Hirschgeweihe, Rückenwirbel von Schlangen und Kuhzähne in Silber und Bronze. Die meisten ihrer Materialien findet sie auf Spaziergängen oder bekommt sie von Freunden und Familie geschenkt. Und was haben die Schlüssel zu bedeuten, die sie immer wieder an ihre Objekte zu den Knochen hängt? Ein Schlüssel sei ein hoch interessantes Ding, meint Holland, weil man nämlich, sobald man einen außerhalb seines gewohnten Kontexts – zum Beispiel auf der Straße – findet, sofort darüber nachzudenken beginnt, wem er gehört und in welches Schloss er passen könnte. Exakt darum gehe es bei ihren „Fraudulent Animals“: die im Alltäglichen und Gewöhnlichen verborgene Schönheit zu entdecken. Was, wenn sich Menschen aber vor den Skulpturen gruseln? „Tod wird oft fälschlicherweise mit Negativität assoziiert“, sagt Holland. „Nur weil du etwas unangenehm findest, heißt das noch lange nicht, dass du es ignorieren sollst.“ Viele Dinge seien schön und schrecklich zugleich, das mache sie ja erst interessant. Damit hat Holland den Nagel wohl auf den Kopf getroffen – vermutlich ist es genau diese Kombination aus schön und schrecklich, weshalb der ganze Knochenschmuck eine derartige Faszination auf uns ausübt.

Foto: Jane Chilvers