Mythos: Stylist

Mythos: Stylist

Erschienen in material girl #10, Sommer 2010

Sie agieren im Hintergrund, ihre Namen sind meist nur Eingeweihten ein Begriff – und doch bestimmen sie, wohin es in der nächsten Saison modemäßig geht: Stylisten sind nach wie vor die großen Unbekannten der Fashionszene. Was tun die eigentlich so den ganzen Tag?

Eins gleich mal vorne weg: Rachel Zoe kommt auf den folgenden Seiten nicht vor. Ganz egal, wie viele Hollywood-Celebritys die Dame mit dem stets leicht verkniffenen Gesicht schon für den Red Carpet eingekleidet hat – in Sachen Credibility spielt Zoe ungefähr in derselben Liga wie die Victoria’s-Secret-Models mit ihren Engelsflügeln. Also recht weit unten.

Am oberen Ende der Skala rangieren diejenigen, deren Namen nicht durch die Klatschpresse geistern, sondern oft bloß kleingedruckt in den Credits von Modestrecken zu lesen sind: Katie Grand, Nicola Formichetti, Camille Bidault Waddington, Namalee Bolle. Im Schatten von Fotografen und Models sind es größtenteils sie, die Stylisten, die den Look unserer Tage prägen, durch Aufsehen erregende Editorials in Magazinen, mit prägnanten Werbekampagnen und dem Styling wichtiger Catwalkshows.

Nur manchmal bekommen auch diese stillen Stilbildner ihre 15 Minuten Ruhm ab. Wenn etwa Katie Grand, nach jahrelangem Wirken im Hintergrund bei The Face und Dazed & Confused, endlich ihr eigenes Magazin LOVE präsentiert, mit der nackten Beth Ditto auf dem Cover der ersten Ausgabe. Oder wenn als Schöpfer von Lady Gagas verrückten Looks plötzlich der Name Nicola Formichetti fällt, den früher nur absolute Fashion-Insider fehlerfrei aussprechen konnten. Oder wenn Camille Bidault Waddington, Ex-Freundin von Jarvis Cocker und Stylistin für Self Service, die britische Vogue und Marc Jacobs, neuerdings sehr freizügig im Blog von Purple-Herausgeber Olivier Zahm posiert.

Auch Namalee Bolle könnte man schon mal wo gesehen haben, denn abseits ihres Tagesjobs als Chefredakteurin und Stylistin beim SuperSuper Magazine zieht die hyperaktive Londonerin mit ihrem Musikprojekt „Namalee & The Namazons“ durch die Clubs. „Ich sehe mich selbst, ehrlich gesagt, nicht nur als Stylistin“, erzählt Namalee im Interview, „sondern als kreativer Mensch, der sich gern auf interessante Weise mit Mode, Musik und Worten beschäftigt.“ Mit der Gründung von SuperSuper wollte sie 2006 das herkömmliche Modeverständnis völlig auf den Kopf stellen, mit knallbunten Outfits und visuell total überladenen Strecken. Was auch jetzt noch manchmal wie ein wirrer Traum von Spongebob Schwammkopf aussieht, ist in Wirklichkeit sehr durchdacht: „Du musst dich in der Modegeschichte gut auskennen, wenn du dich als Künstler verstehst, der eine Vision hat. Für mich sind diese Kenntnisse essentiell, weil ich sonst ja gar nicht wüsste, was ich eigentlich hinterfragen kann“, so Bolle. Sie gehöre jedenfalls nicht zu den Stylisten, die jemandem einen bestimmten Look aufdrängen würden, nur weil das gerade angesagt sei.

Sasha Rainbow, unter anderem Stylistin für die britische Designerin Nova Dando, betrachtet profunde Kenntnisse der Modehistorie als essentielle Voraussetzung für ihren Job: „Es ist wichtig, dein Business und dessen Geschichte zu verstehen, damit deine Arbeit die nötige Tiefe erhält. Ich hole mir meine Inspiration nicht nur aus der Vergangenheit, sondern auch aus der Zukunft.“ Wie letzteres in der Praxis funktioniert, wollte Rainbow leider nicht näher erläutern.

Weit weniger esoterisch klingt Kirsten Hermanns Ansatz. „Mich inspiriert alles. Was nicht heißt, dass ich ständig inspiriert bin“, erklärt die deutsche Stylistin, zu deren Kunden Adidas, Haltbar Murkudis oder Wolford zählen und die bereits Editorials in Achtung, Maxi, Neon, Stern, der deutschen Vogue und der japanischen Elle zu verbuchen hat. „Literatur, Worte, Natur, Kunst, Formulierungen meiner Tochter, Yoga, andere Kulturen, Politik, Stoffe, Farben, all das nehme ich auf“, so Hermann. Sie liebe es, gedanklichen Pingpong mit anderen zu spielen.

Für die Amsterdamer Stylistin April Jumelet, die aufmerksame material girl-Leserinnen vielleicht von ihrem Editorial „Donna, Gwen and Esmee Are Flying Kites“ in der Winter-Ausgabe 2009 kennen, entscheidet sich hingegen alles erst ganz intuitiv direkt am Set. „Wenn ich einen Look oder einen Style kreiere, ist das für mich wie bei einem Bild: Manchmal mag ich es, wenn alles in Balance ist – die Komposition, die Farben, das Model und ihre Energie –, und manchmal nicht“, erklärt Jumelet, die ihren Abschluss, recht branchenuntypisch, statt in Fashiondesign in Klinischer Psychologie gemacht hat. Ein Umstand, der ihr in den stressigen Momenten vor und während eines Fotoshoots bisweilen zugute kommt.

Wie sieht denn der typische Alltag eines Stylisten tatsächlich aus? „Weit weniger glamourös, als viele denken“, lacht Richard Schreefel, ehemaliger Designer für Levi’s und aktuell unter anderem für Purple Fashion, Spoon, Zoo und die holländische Ausgabe von L’Officiel tätig. „Die meiste Zeit geht für die Vorbereitung drauf: mit den Fotografen und ihren Assistenten telefonieren und das Thema des Shoots besprechen, alles organisieren – die Models, die Klamotten, die Location, Haare und Make-up.“ Sein Job bestehe darin, sagt Schreefel, mit dem ganzen Team eng zusammenzuarbeiten, den Überblick über das Editorial zu behalten und aus dem Endprodukt – in diesem Fall das Foto – das Beste herauszuholen. Ein gutes Foto entstehe nur, wenn der Teamspirit und die Atmosphäre am Set hundertprozentig stimmen.

Dem kann April Jumelet nur beipflichten: „Der schönste Moment für mich ist, wenn wir das erste Foto machen, und es entspricht genau unseren Erwartungen. Das gibt mir einen totalen Kick.“ Trotz aller akribischer Vorbereitung käme aber natürlich unweigerlich immer der Moment, wo ein Look gar nicht funktioniere und man sich spontan etwas Neues einfallen lassen müsse. „In so einem Fall hilft es, wenn ich mir die bisher gemachten Fotos am Computer durchsehe und anschließend direkt am Model improvisiere, bis ich wieder in der richtigen Richtung unterwegs bin.“ Für ein Editorial kreiert Jumelet im Durchschnitt 8 bis 10 Looks. Dann sei Schluss, weil dem Model schließlich irgendwann die Energie ausgehe. Und wie hoch liegt ihr persönlicher Rekord am Set? „34 Looks für 15 Models“, erinnert sich Jumelet lachend, „da war ich mit meinen Kräften echt total am Ende!“

Wird den Profis – angesichts der permanenten Auseinandersetzung mit dem Thema – Mode an sich zwischendurch auch mal langweilig? Ihr sei das noch nie passiert, behauptet Sasha Rainbow, während Namalee Bolle zugibt: „Die ganze Zeit. Die Mode und ich, das ist eine richtige Hassliebe.“ Sie sei sehr bodenständig, und Mode wiederum sei mitunter sehr künstlich und oberflächlich, das gehe nicht immer konfliktfrei zusammen. „Ich bin mir nie sicher, ob ich gegen dieses Dilemma ankämpfen soll oder ob mir im Gegenteil gerade das total Spaß macht. Aber vielleicht wird genau dadurch meine Arbeit erst gut“, mutmaßt Bolle.

Wie gehen Stylisten eigentlich mit der Tatsache um, dass Saison für Saison Unmengen an neuen Kleidungsstücken auf den Markt geworfen werden? Macht man da kurzlebige Trends überhaupt mit? „Ich interessiere mich nicht für saisonale Trends“, wiegelt Sasha Rainbow ab. Es sei viel wichtiger, in Stücke zu investieren, die man liebt. April Jumelet sieht das ähnlich: „Ich ziehe an, was mir gefällt, und kaufe Dinge, die mir ins Auge stechen, vieles Secondhand oder im Abverkauf.“ Es sei ihr sogar schon oft passiert, dass sie plötzlich Klamotten oder Schuhe zu tragen beginne, die bereits seit Jahren bei ihr im Schrank herumlägen.

Auch Namalee Bolle kümmert es herzlich wenig, was im Moment angeblich gerade „total trendy“ ist: „Ich recycle oft alte Looks und kaufe gern in Secondhandläden ein. Als Muse für das britische Label Basso & Brooke habe ich außerdem den Vorteil, das ganze Archiv zur Verfügung zu haben und mir die besten Stücke daraus aussuchen zu dürfen!“ Kirsten Hermann verweigert sich ebenfalls dem Druck, dass alles ständig neu sein muss: „Ich lasse mich inspirieren, aber nicht tyrannisieren. Meine Lieblingsstücke sind mittlerweile auch die meiner Tochter, und ich habe somit von ihr den Auftrag, alles für ihre große Zeit später gut zu verwahren. Nichts lieber als das.“

Apropos später: Wäre er auch dann noch gern Stylist, wenn seine Arbeit in Zukunft vielleicht „nur“ mehr online publiziert wird? „Ich kann mir eine Welt ohne Printmagazine nicht vorstellen“, sagt Richard Schreefel. „Das ist wie bei Klamotten. Ich muss es angreifen können, sehen, wie etwas gedruckt ist, und das Papier riechen. Ich denke aber, dass nur qualititativ hochwertige Magazine, mit den besten Fotografen, Stylisten und Models, die Krise überstehen werden. Online-Fashionmagazine sind tolle Präsentationsflächen für neue Talente, da wird sich in Zukunft sicher noch einiges tun. Aber Print bleibt einfach Print.“ Das sehen wir eigentlich genauso, danke, Herr Schreefel!

Foto: Hypebeast