Wohnst du noch oder dekorierst du schon?
Erschienen in material girl #20, Winter 2012
Schwedische Massenmöbel zum Selberzusammenbauen mögen zwar gut fürs Budget sein, die Credibility steigern sie allerdings nicht gerade. Wer sich wünscht, dass Gäste beim Anblick der Wohnung in wilde Begeisterungsschreie ausbrechen, darf in Sachen Interiordesign schon mal in fremden Apartments spionieren.
Interiordesign ist der neue Streetstyle. Ließ man jahrelang in möglichst zufällig wirkenden Outfits fotografieren, rückt man jetzt gern die genauso „zufällig“ dekorierten eigenen vier Wände ins Instagram-Retroblitzlicht. Und wie bei den Klamotten ist auch hier viel Fingerspitzengefühl gefragt: nix von der Stange bitte, lieber was Ererbtes gemischt mit Flohmarktfunden neben der Lampe, die man letztens von Freunden erbettelt hat, kombiniert mit, ja, womit eigentlich? Schlägt akute Einrichtungshemmung zu, holt man sich die nötige Inspiration einfach bei einschlägigen Blogs wie „The Selby“, dem Star unter den Wohnungsspionen. Seit 2008 besucht Todd Selby Menschen wie Pharrell Williams, Karen Walker oder Pamela Love zu Hause und fotografiert dort alles ins letzte stylische Winkerl (Buchempfehlung: „The Selby is in your Place“). Einen ähnlichen Ansatz verfolgt auch „Freunde von Freunden“, das Designer, Künstler, Fotografen, Illustratoren und andere kreative Menschen aus Amsterdam, London, New York, Paris und Reykjavik bis Wien in ihren Wohnungen interviewt. Man sieht tapezierte Sofatische, abgeschabte Schiffböden, überquellende Schreibtische, feinsäuberlich sortierte Garderoben, den gedrechselten Schaukelstuhl von Modedesignerin Esther Perbandt und die Kakteen am Sideboard von US-Fotograf Richard Kern. Dem ersten Buch „Freunde von Freunden Berlin“ folgt Anfang 2013 ein Fotoband mit 40 Wohnungen-und-ihre-Besitzer-Porträts, u.a. aus Amsterdam, NYC, Beirut, Barcelona, San Francisco und Tokyo. Ebenfalls im Kreativbereich spioniert „This Ain’t No Disco“, allerdings blickt man hier den Mitarbeitern internationaler Agenturen auf den Schreibtisch. Warum steht bei den holländischen PR-Profis Hemels van der Hart ein schwarzes Plastikpferd herum? Egal, wir wollen das jetzt bitte im Büro haben. Sofort. Dieses „Will ich sofort!“-Gefühl stellt sich auch beim Durchklicken durch die „Apartment Therapy Tours“ und vor allem bei „SF Girl by Bay“ in Sekundenschnelle ein. Ziegel, die an einigen Stellen durch den Verputz schauen? Kleiderhaken mit dem Best of des Schranks, die von Holztramen an der Zimmerdecke baumeln? Goldene gerankte Blätter als Lampenschirme? Und die Wand hinterm Bett vielleicht anthrazitgrau streichen? Spionieren, notieren, dekorieren. Wir sind dann mal im Baumarkt.
Foto: The Selby